East meets west by forceful revision

24-07-2023

Turkey's Versailles undone on the battlefield and sealed in Lausanne 🇨🇭. The Treaty of Sèvres was overruled by the application of armed resistance. What did this mean to Weimar Germany's Versailles? 

Expulsion and extermination policies, think of the Greeks and Armenians, were condoned. It demonstrated once more the stillbirth of the British-led League of Nations.


Erste Revision

Zu Beginn des Jahres 2023 überschlugen sich Historiker und sonstige Publizisten in Deutschland förmlich in den Titeln vieler ihrer Veröffentlichungen zur hundertjährigen Erinnerung an 1923. Vom „Krisenjahr“, über „Abgrund und Totentanz“, bis zu „Trauma, Krise und Endstation“. Leicht könnte dabei vergessen werden, dass dies in England, Frankreich oder Italien keine Rolle spielt. Gerade das 2017 eröffnete Haus der europäischen Geschichte in Brüssel zeigt, dass eine europäische Erinnerungskultur in den Sternen geschrieben steht. Am 5. Januar erstellte Deutschlandfunk Kultur zu 1923 einen profunden Überblick. Passiver Widerstand gegen den Verlust von etwa siebzehn Prozent der Wirtschaftsleistung, die sich verstärkende Wirtschaftskrise und die Hyperinflation, welche u.a. durch die Bezahlung der widerstrebenden Bevölkerung entstand, Reichsexekutionen gegen die Landesregierungen von Sachsen und Thüringen wegen Regierungsbeteiligung der KPD und schließlich am 8./9. November der Hitler-Ludendorff-Putsch in München bestimmten die Schlagzeilen. Der Blick deutscher Historie liegt zu Recht auf diesem herausfordernden Jahr in einer unsteten Zeit für unseren Kontinent. Auf europäische Geschichtsereignissen wird im Folgenden fokussiert.

Einige Monate vor dem letzten Ereignis dieser Aufzählung gelang den Revisionisten von 1919, die von Irland bis zur Türkei vorzufinden waren, zum ersten Mal ein Sieg. Das türkische Versailles hieß der Vertrag von Sèvres (10. August 1920), dessen Ratifizierung infolge des türkischen Befreiungskrieges ausblieb. Es gelang den erfolgreich Widerstand leistenden Nachfolgern des Ottomanischen Reiches, diktierte Vertragsbestimmungen der Entente-Mächte durch den Vertrag von Lausanne außer Kraft zu setzen. Am 24. Juli 2023 jährt sich der Vertragsschluss zum hundertsten Mal, dessen Auswirkungen noch heute in den Grenzziehungen Griechenlands und der Türkei zu sehen sind.

Im Anschluss an das Waffenstillstandsjahr 1918–1919 dauerte der „Griechisch-Türkische Krieg“ oder der „Türkische Befreiungskrieg“ um den anatolischen Teil des zerbrochenen Osmanischen Reiches drei Jahre. Das Königreich Griechenland nutzte durch die Rückendeckung Großbritanniens, des Hauptakteurs der Pariser Vorortsverträge, und die Schwäche des zerfallenen Reiches, um Gebietsansprüche in Westanatolien durchzusetzen – bis hin zu Bestrebungen der Inbesitznahme von Istanbul. Dahingegen wurde die säkularisierte Türkei durch Mussolinis Italien und Lenins Sowjetrussland (ab 1922 Sowjetunion) unterstützt. Der Krieg kostete auf der griechischen Seite etwa 90.000 und der türkischen Seite etwa 50.000 Tote, Verwundete und Vermisste. Für die Türken entwickelte sich der Konflikt zum Befreiungskrieg, der General Mustafa Kemal Pascha (später „Atatürk“ genannt) den nötigen Rückenwind für die Abschaffung des Sultanats gab. Für die Griechen endete der bewaffnete Konflikt in einer vollständigen Niederlage. 1922 wurde Athens Regierung durch einen Staatsstreich abgesetzt und die Zweite Griechische Republik gewählt.

Im Vertrag von Lausanne, geschlossen zwischen der türkischen Siegerpartei und dem Britischen Empire, Frankreich, Italien, Japan, 🇬🇷, Rumänien sowie dem Serbisch-Kroatisch-Slowenischen Staat, sollte der Frieden durch klare Definitionen von nationalen Grenzen erreicht werden. Bis heute bestimmen die 143 Artikel die politischen Verhältnisse in dieser Region. Dieses im westlichen Teil Europas als „kleinasiatische Katastrophe“ bezeichnete Ereignis war symptomatisch für den Versuch, Bevölkerungsanteile mittels zwischenstaatlicher Verträge rechtlich legitimiert „umzusiedeln“. Verschiedene Quellen sprechen von über 1,6 Millionen Menschen, die nach Religion eingeteilt wurden. Herkunft oder Sprache spielten keine Rolle. Somit mussten viele die Heimat verlassen, um eine entsprechende Homogenisierung herbeizuführen und das Konfliktpotenzial zu minimieren.(1)

Selbst Ernest Hemingway, der als Amerikaner einem Staat angehörte, der sich in wiederholten Demokratieverfahren von den Pariser Diktaten distanziert hatte, kommentierte als Reporter diese traurigen Ereignisse: „Männer, Frauen, Kinder, Decken über den Köpfen, blindlings im Regen (…) eine stille Prozession (…) alles, was sie tun können, ist weiterlaufen“.(2) Im Laufe dieser Ereignisse wurden Grenzen angepasst, Annexionen verstetigt (z.B. Zypern an 🇬🇧), Minderheitenschutz geregelt oder auch die Bosporus Passage unter Verwaltung des britisch geführten Völkerbundes gestellt. Damit stellte der Revisionismus dieser Ecke nicht länger mehr eine überwältigende Gefahr dar, wie diese im Falle der subjektivierten Objekten des Diktates aus den Pariser Vororten nachweisbar war.

Im kollektiven Gedächtnis beider Staaten sind die hundert Jahre alten Ereignisse noch immer präsent. Griechenland gedachte 2022 in einer Ausstellung im hauptstädtischen Benaki Museum den Auswirkungen des Krieges. Seit einigen Jahren nutzt die türkische Politik vor allem das Thema der Grenzziehung, um Aufmerksamkeit zu generieren. Dabei verblasst Ankaras Interesse an einer umfassenden Erinnerungskultur.


Peter Finke

(1)  Murat Gökmen, 100 Jahre Vertrag von Lausanne – und dann?, in: Deutsch Türkisches Journal, 31. Januar 2023. Achtung: geschichtswissenschaftliche Fehler, die über einen Zahlendreher hinausgehen.

(2)  Christiane Schlötzer,  Der „bösartige Vertrag“ von Lausanne kostete 1,6 Millionen Menschen ihre Heimat, in: Tagesanzeiger, 20. September 2022.

(3)  Turkey's Erdogan calls for border treaty review in Greece visit, BBC News, 7. Dezember 2017.



The Lausanne Project (Universiteit Utrecht)

"100 Objects"

Greater War? Von wegen!

In historischer und erinnerungskultureller Perspektive liegt der griechische Rückzug aus Kleinasien zurück. Zwischen der Türkei unter der profanen Leitung des oben genannten Generals und Englands Bündnispartner Griechenland wird ein Waffenstillstand vereinbart. Seit 1918 (!) befinden sich u.a. britische und 🇫🇷 Besatzungstruppen in Anatolien.

Im Schweizer Konferenzort Lausanne gelingt es der neuen Türkei als erster der diktierten Mächte infolge der Pariser Vorortverträge 1919, das Diktat zumindest teilweise aus der Welt zu schaffen und sich infolgedessen unter den gleichberechtigten Mächten zu etablieren. Hier wird auf die Auswirkungen innerhalb der Ordnung von Versailles fokussiert. Der Reihe nach bekamen Ungarn, Österreich, Bulgarien, die Türkei und Deutschland einzeln ihren „Vertrag von Versailles.“ Unter diesen Verlierern des Weltkrieges befanden sich zwei größere bzw. Großmächte, von denen nach Lausanne die Weimarer Republik in entsprechend erschwerter Isolation übrig blieb.

Der britische PM David Lloyd George, vier Jahre zuvor der siegreiche und heimliche Leiter der Pariser Konferenz, muss zurücktreten, weil seine „Greater War“-Politik gescheitert ist. Mit der Bezeichnung wird die Überleitung von den Geschehnissen zur Historiographie bzw. Erinnerungskultur hergestellt.

Seit dem unvollständig begangenen Jahrhundertgedenken zum Ersten Weltkrieg zeichnet sich eine Tendenz ab, die Dauer des Krieg neu zu definieren. Damit käme dieser nicht 1919 oder im Waffenstillstandsjahr 1918 zu Ende. „Größerer Krieg“ (1914–1923/1924) ist eine Prägung der modernen Historiographie, die u.a von Jay Winter 🇺🇸, Robert Gerwarth 🇬🇧/🇩🇪, Erez Manela 🇺🇸, Elisabeth Piller und Jörn Leonhard (beide 🇩🇪) befürwortet bzw. geteilt wird. (1)

Was kann der angloamerikanisch geprägten Konzeption von „Greater War“, dessen abschließendes Parameter 1923 hieße, entgegengehalten werden?

Wenn der größere Krieg 1923/1924 nach einem Jahrzehnt zu Ende kam, soll dann die Neuzeit ab 1924 Frieden heißen? Die Versailler Ordnung wäre von den Türken nicht als Frieden empfunden, sondern letztendlich von den ungleich schwerer belangten Deutschen schon? Wir erheben die Frage, was denn ab 1924 wäre: was für Winter/Leonhard'scher-Frieden sollte unter welchen Bedingungen eingetreten sein? Im Endeffekt sollte ein weiteres Jahrzehnt folgen, in dem an den abweisenden oder ignoranten Diktatautoren in London, dem Empire und Paris ein nach dem anderen Revidierungsgesuch der Weimarer Republik abprallten. In Versailles–Sèvres wurde der Türkei im Vergleich zum moralisch gebrandmarkten Deutschland bedeutsam mehr Luft zum Atmen gelassen. Bis zum Untergang der Weimarer Republik sollten die Deutschen ein weiteres Jahrzehnt brauchen, um endlich erfolgreich deren Trasse der unerlässlichen Revision anzutreten. Im Widerspruch zur oben genannten These heißt das, dass nach dem einvernehmlichen Lausanne in Europa insgesamt nicht weniger Kriegszustand war als davor. An unserer entsprechenden These wird weiterhin gearbeitet, siehe unten.

Den erinnerungskulturell lückenhaften Abschluss des ersten Jahrhundertgedenkens zum Weltkriegszeitalter haben wir zum Anlass genommen, die Aufa100 zu gründen und auf eine Neuinterpretation dieser Geschichte hinzuarbeiten. Sehen sich die Greater-War-Theoretiker in Opposition zum englischen Bestseller-Autor John Maynard Keynes, der auf seine Weise dargestellt hat, dass in der jungen deutschen Demokratie von 1918–1919 der Kriegszustand spätestens ab der Unterzeichnung am 28. Juni 1919 in Versailles als dauerhaft wahrgenommen wurde? Objektiv betrachtet ging diese Wahrnehmung weit über nationale Grenzen hinaus. Bevor Keynes ein halbes Jahr später zum Bestseller-Autor in Sachen Krieg und Frieden avancierte, beschäftigte den Wirtschaftswissenschaftler bis drei Wochen vor Schluss in Versailles die Doppeldelegation von Lloyd George. Dieser Hauptautor des Diktats gewährte ihm den Entlassungsgesuch.

Im Anschluss an die Analyse von Prof. Karlheinz Lüdeking zur europaweit einzigartigen Versailles-Ausstellung in Berliner Stadtmuseum 2019 (dahingestellt sei Attila Szalay-Berzeviczy's militärisch-historisch geprägten Foto-Ausstellung in Sarajewo) ist unsere These, dass ein friedlicher Weg aus dem Waffenstillstand einzig zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten zustande kam, und zwar im Sommer 1921. Bekanntlich weigerten sich die USA, formal aufgrund der Monroe-Doktrin, was die Empörung oder Entfremdung durch den Konferenzcoup britischer Imperialisten und deren wenig friedfertige Innovation des Subimperialismus vielfach außer Acht lässt, den Vertrag und „Bund von Versailles“ zu ratifizieren. Wenn der (Welt-)krieg über die gegenseitig vereinbarte Einstellung der Kampfhandlungen von 1918 (Armistice) und das formale Ende im Juni 1919 hinausgegangen sein sollte, dann kommt die These vom zweiten Dreißigjährigen Krieges (bis 1945) zum Tragen. Mit leichtfertig anmutender Ironie sagen wir zu den Befürwortern der These des „Greater War“, dass der Zug zur Transition vom Bahnhof Komparativ zum Superlativ abgefahren ist: Wenn schon „größer“, warum dann nicht „greatest“? Sollte demzufolge nicht das Weltkriegszeitalter samt Großem, größerem und Zweitem Weltkrieg pauschal als „Greatest War“ (1914– 1945) betrachtet werden?

Wir möchten dies ablehnen. Ja, um etwa 1924 fiel der Vorhang zur Kriegslage in den kleineren Theatern, von Polen bis Irland und Griechenland. Demzufolge sollten in Weimar viele gehofft haben, dass sich die Befriedung auch im großen Theater bzw. unter dem Dach ihres Heimatlandes durchsetze. Als kleine Kommission möchten wir uns auf die Vision großer Werke einlassen. Endlich möchten wir das angelsächsisch geprägte Verständnis zum Weltkrieg durch den Aufbau einer neuen, transnational kommissionierten Geschichtsschreibung ablösen und die These des Weltkriegszeitalters als eines zweiten dreißigjährigen Krieges untermauern. Dazu muss die Geschichte des Vertrages und Völkerbundes (zwei in einem) nicht nur dekolonisiert, was geradeaus in die postkoloniale Debatte der 2010-er und 2020-er Jahre hineinpasst, sondern auch „entnazifiziert“ werden.


Peter de Bourgraaf

(1)  Robert Gerwarth (2021). The Sky beyond Versailles: The Paris Peace Treaties in Recent Historiography. In: The Journal of Modern History (Vol. 93, Nr. 4), p. 896⎼930, 924.