„Versailles“ im Spiegel Mendelssohns Bachpassion

15-09-2023

Als sich am 15. September 1923 die Berliner Regierung zur belgisch-französischen Rheinlandbesetzung äußerte, standen Truppen aus 🇧🇪s und Frankreichs Kolonien seit acht Monaten an der Ruhr. Ihr drohte der Verlust des industriellen Herzes. Ein Abbruch des passiven Widerstandes könne bei der in Bayern, insbesondere in München, herrschenden Stimmung „eine Auflösung des Reichs“ nach sich ziehen: „Man befürchte ein zweites Versailles.“ (1)

Ein paar Wochen später sollte gegen die bayrische Regierung geputscht werden. Der Putsch misslang wie der von 1920. Auch wenn es ein Dutzend Jahre brauchte, sollten die Hauptrollenspieler mit anderen Mitteln ihr Ziel erreichen.

In der Folge des durch die Politik und Öffentlichkeit als nationale Erniedrigung empfundenen Vertrag von Versailles, der im Winter 1920 ohne Beteiligung der Vereinigten Staaten in Kraft getreten war, wurden von Deutschlands westeuropäischen Peinigern weitere Fakten geschaffen. In der Mainstream Geschichtsschreibung wird des öfteren der Aspekt schwarzafrikanischer Besetzer beidseits des Rheins hervorgehoben. Dabei spielten die rabenschwarzen Erinnerungen an das spätere Naziregime und seine Übermensch-Ideologie eindeutig eine Rolle. Besonders an dieser Stelle sei vor Anachronismen oder Determinismus gewarnt. Die Aufa100 ist der Meinung, dass die gängige Historiographie nicht nur die Kritik von Amnesie zur damals priorisierten und zunächst verheimlichten Kolonialgeschichte der Pariser Konferenz trifft, sondern auch die eines Versagens in der Aktualität der postkolonialen Debatte. Und da tritt mit dem Schlagwort Kolonialismus eine unzulänglich recherchierte Verbindung in Erscheinung.

Erst ab Mai 1919 wurde den Deutschen, deren Delegation im vierten Konferenzmonat nach Paris geladen wurde, klar, dass „ … in entscheidenden Punkten die vereinbarte Basis des Rechtsfriedens verlassen wurde.“ (2) Mit einem Paukenschlag torpedierte am Eingangstor der "Friedenskonferenz" eine überraschenderweise doppelte Delegation Großbritanniens unmittelbar punkt fünf der vierzehn Punkte, Grundlage des verlängerten Waffenstillstands, nach welchem „1914“ im außereuropäischen Bereich, d.h. die Vorkriegslage, wiederhergestellt werden sollte. Dieser Streich unter der Führung von David Lloyd George und seinem Kolonialhelden Jan Christiaan Smuts, dem Leiter der faktisch ebenbürtigen British Imperial Delegation, wurde damit begründet, dass sich der Deutsche in den Kolonien keineswegs als fähig gezeigt hatte, Asiaten oder Afrikanen anständig zu verwalten. Deshalb wurde seine Nation von der Zivilisierungsmission, mit der der Kolonialismus und Hochimperialismus vor dem Hintergrund von Punkt vierzehn bzw. Woodrow Wilsons Steckenpferd der Errichtung einer internationalen Organisation notwendigerweise begründet wurde, dauerhaft ausgeschlossen. In Deutschland wurden die ersten Vertragsbestimmungen, welche die späteren Entwicklungen wie der immer wieder einzeln hervorgehobene Artikel 231 vorwegnahmen, ab dem Vertragsentwurf vom Mai als „Kolonialschuldlüge“ bekannt. (3) 

Dadurch, dass gerade von Truppen aus den Kolonien bis nach Kleve, Dortmund, Limburg und Gernsheim „umgekehrte Kolonisation“ betrieben wurde, schien es so, als würden die als kollektive Erniedrigung empfundenen Sachverhalte der Versailler Ordnung ab absurdum geführt.

Das warf seinen Schatten voraus. Das Diktat von 1919 reichte vollends, um „Weimar“ im Keim zu ersticken. Wenn Historikerkollegen mal wieder daran zweifeln, sollte ihnen das Argument der „konsekutiven Versailles“ bzw. deren Nachhaltigkeit nahegelegt werden. Aufgrund der Faktenlage würde das britisch-britische und dann französische Diktat unmittelbar auf eine Diktatur hinauslaufen. Selbstverständlich hätte es nicht so kommen müssen. In der Sache pflichten wir diesen Kollegen bei. Unter den vorherrschenden Verhältnissen, in denen es keinerlei Kopf der etablierten Demokratien (London, Paris) schaffte, wohlgemerkt vorhandene Revisionskräfte zusammenzuführen und auf nie ablassende Bitte der deutschen Demokraten und anderen revisionistische Politik zu entwickeln, wurde jener Unmittelbarkeit oder auch einer fortwährenden Eskalation der Weg geebnet. Manche werden einbringen, dass der heraufbeschworenen Diktatur der Nationalsozialisten unsäglich größere Schäden und Verbrechen nachgewiesen werden können als den Autoren des Schandvertrages von 1919. Dieser Tatbestand steht hier nicht zur Debatte. Der springende Punkt ist, dass weder auf ein neues noch untergegangenes Deutsches Reich die Verantwortung für die Wiederherstellung des Kriegszustandes innerhalb von wenigen Monaten nach dem Waffenstillstand 1918 zurückzuführen ist. Weiterführende Analyse und Begründungen dazu sind meinem Werk und mehreren Artikeln oder Blogposts unser vielfach zu entnehmen.

Das zweite Versailles von vor genau hundert Jahren wäre als ein Gnadenstoß für Deutschland und den britisch geführten (!) Völkerbund zu betrachten. Dabei ist eine historiographische Differenzierung angebracht. Während die Verantwortung für den Vertrag und Bund hauptsächlich bei der erwähnten Doppeldelegation ruhte, wurde dieses Versailles eindeutig von Brüssel und Paris veranstaltet. Nach dem Beispiel der britischen Delegationen in Paris, gegen welche die kombinierten Vertretungen der USA und des Gastgeberlandes keineswegs mehr Gewicht hatten, traten die französischsprachig geführten Bündnispartner vereint gegen Weimar vor.

Dazu schreibt der deutsche Autor Gerhart Hauptmann in einem Tagebucheintrag vom 4. März 1923, fast zwei Monate nach der Invasion: „Die furchbar-wilde Entartung des Franzoseneinfalls: Abwesenheit aller Vernunft und Mäßigung: Verblendung, die nichts von Europa weiß und keine europäische Verantwortung kennt.“ (4)


1.  Volker Ullrich. Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund, C.H. Beck: München 1923, S. 117.

2.  Ulrich Herrmann. „Der deutsche Makel – Der Vertrag von Versailles und die Folgen,“ SWR Kultur, 6. Februar 2019, S. 2. https://www.swr.de/swr2/wissen/der-deutsche-makel-vertrag-von-versailles-und-die-folgen-100.html.

3.  In Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918 – 1923 dauert es mehr als siebenhundert Seiten, bis sich Jörn Leonhard dem Imperialismus und seiner exklusiv britischen Variante vom Winter 1919 widmet. Des deutschen Historikers Widmung beschlagnahmt lediglich zehn der insgesamt 1.500 Seiten.

4.  Ullrich. Deutschland 1923, S. 361. Zit. nach Peter Sprengel. Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie, München 2012.

Teaserbild der einzigen „Versailles“–Ausstellung des Anniversaire-Jahres 2019
Teaserbild der einzigen „Versailles“–Ausstellung des Anniversaire-Jahres 2019