Washingtons „Weimar an der Wolga“

15-02-2024

Vorveröffentlichung De Bourgraafs Artikel. Horrorszenario eines „zweiten Weimars“? Wenn ja, klingt die Vokabel so vermessen wie „Europa“, wenn die Europäische Union gemeint wird. Die These wäre, dass sich seit dreißig Jahren ein „zweites Versailles“ anbahnt.


Synopsis

Pünktlich zum Beginn des Jahrhundertgedenkens zum Ersten Weltkrieg (2014–2019) haben die kriegerischen Auseinandersetzungen in und um die Ukraine begonnen. Anderthalb Jahre nach der Eskalation von 2022 meldeten sich amerikanische Wissenschaftler zurück in den Diskurs zu den Analogien zwischen der „ersten Nachkriegszeit“ und der postsowjetischen Ära. Anders als bei russischen Kollegen wurde das Horrorszenario eines „Weimar/Russia“ (Diskursnamen) von Hanson und Kopstein vielmehr an den Entwicklungen der Russischen Gesellschaft erkannt als an den tendenziell antirussischen Osterweiterungen des westlichen Militärbündnisses aus Kaltkriegszeiten. Nach gut 25 Jahren wird ihre spannende Selbstreflexion stärker von einem beängstigenden Unilateralismus geprägt. Von Westeuropa aus mischte De Bourgraaf vom Anfang an mit. Der neu aufgelegten These setzt er die Erweiterung auf einen „zweiten Bund von Versailles“ gegenüber.

Le "Weimar de la Volga" de Washington

Les conflits armés en et autour de l'Ukraine ont commencé juste à temps pour le début de la commémoration du centenaire de la Première Guerre mondiale (2014–2019). Un an et demi après l'escalade de 2022, des scientifiques américains ont fait leur retour dans le discours sur les analogies entre la "première période d'après-guerre" et l'ère post-soviétique. Contrairement à leurs collègues russes, Hanson und Kopstein ont bien plus reconnu le scénario catastrophe d'une "Russie de Weimar" (nom du discours) dans les développements de la Fédération de Russie que dans les extensions vers l'Est, tendanciellement antirusses, de l'alliance militaire occidentale du temps de la guerre froide. Après un peu plus de 25 ans, leur passionnante introspection est plus prononcée marquée par un unilatéralisme effrayant. De l'Europe occidentale, De Bourgraaf s'est engagé dès le début. A la thèse revisitée, il oppose l'élargissement à une "deuxième société de Versailles".


Einleitung

Am 10 und 11. November 2018 fand sich alle Welt in Paris ein. Sämtliche Regierungschefs und Staatsoberhäupter gedachten einträchtig des hundertsten Jahrestages des Waffenstillstands von 1918. Da das Ende des Großen Krieges (1914–1919) bekanntlich durch den Abschluss des Versailler Vertrages feste Form annahm, schien es trotz der zeitlichen Nähe folgerichtig, sieben Monate später erneut Erinnerung zu kultivieren oder Geschichtsbewusstsein gemeinsam zu fördern. Die Folgeveranstaltung vom 28. Juni 2019 zeichnete sich aber durch kollektive Abstinenz von Europas Würdenträgern aus. Am Centenaire-Tag des Vertragswerkes gedachten einzig Gäste aus den Vereinigten Staaten des formalen Endes des Waffenstillstandes an historischem Ort. Eingeladen wurden sie von der United States World War One Centennial Commission (WWICC), deren aufschlussreiche Podcasts zu den Pariser Geschehnissen von damals bis zum späten Herbst fortgesetzt werden sollten. Nicht nur aus akademischer Sicht wäre spannend gewesen, die weit gereisten Anwesenden zu fragen, ob es ihnen nicht merkwürdig vorkam, dass sich um eine entsprechende Erinnerungskultur keiner der europäischen Partner zu kümmern schien.

Wenn Gegenwart und Zeitgeschichte parallel erforscht werden, offenbart sich in einigen Fällen ein klarer Widerspruch. Neben dem US-amerikanischen Fall wird am Ende der Fall „Deutschland“ besprochen. Die Widersprüchlichkeit eines Jahrhunderts der historisch-politischen Entwicklungsperspektive beider Waffenstillstandsinitiatoren des Ersten Weltkrieges geht aus einer Erweiterung der Weimar/Russia-These hervor. Bei der ursprünglichen These handelt es sich um einen Vergleich der Geschehnisse in der Weimarer Republik und der Russischen Föderation. Im Zusammenhang damit stehen die Blogposts und Artikel der Aufa100, die seit einigen Jahren Stoff zum Nachdenken geben.

Wechseitigkeit zwischen Historien und der Politik der Stunde im stetigen Abstand von achtzig bis hundert Jahren bildet ein wesentlicher Bestandteil der Methodik. 2023 erlebte die These, die seit dreißig Jahren Wissenschaftler in Ost und West beschäftigt, eine neue Hochzeit. Zum Jubiläum der französischen Literaturzeitschrift Europe (1923–2023) schafften die Association Romain Rolland in Deutschland e.V. und die Universität Passau am 10. und 11. November 2023 den Rahmen, unsere langjährige Expertise einzubringen. Dabei wird eine Polemik zum wichtigsten Verfechter der These herausgebildet.

Im Gegensatz zur hundert Jahre schlafenden Prinzessin im Märchen Dornröschen setzt sich auf der Metaebene die Ruhe ihresgleichen in einem zweiten Jahrhundert fort. In einer zeitgenössischen Fassung der Erzählung gab Martin Schläpfer diesem Publikumshit ab 2022 eine zugehörige Dimension. Der Schweizer Choreograph erzählte in der Wiener Oper eine Geschichte über das Erwachsenwerden. Am ergänzenden Bildungs- und Diskussionsprogramm der Jubiläumsveranstaltung im Versailler Lusthof nahm u.a. eine Auswahl von Lehrkräften teil. Alle reisten nach Europa. Daher schien es im Umgang mit der Geschichte, Gedenkkultur und deren strukturellen Lehren für aktuelle oder auch künftige Sicherheitspolitik so, als hätte das Gros der mehrheitlich passiven Zuschauer Europas zu Ende gelernt. Allen voran wurden vor allem in Deutschland Holocaust und Hitlerismus als zunehmend Horizont verblassende Schwerpunkte gesetzt, um „die Nostalgie nach den Ungerechtigkeiten der (jüngeren) Vergangenheit“ als Monstranz vor sich herzutragen. Über die Jahre der Coronakrise wurde dieser Engpass durch den australischen Historiker Dirk Moses unter dem Titel The German catechism (Historikerstreit 2.0) international bekannt.


INHALT (5.500 Worte)

1.  Historisch-politische Konzeptualisierung

2.  Vorwarnung und Drohkulisse

3.  Thesenspiegelung

4.  Brücke zwischen Opfer und Täterschaft?

Schlussfolgerung


Presented 11. November 2023, 105th Armistice (1918) anniversary, at Passau University, Germany
Presented 11. November 2023, 105th Armistice (1918) anniversary, at Passau University, Germany