Bund im Europarat: "We are at war"

01-02-2023

Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte.
Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen.

Diesen ersten Zeilen des bekannten Spruches aus dem Talmud scheint die Tage mehr Bedeutung zuzukommen als sonst. Denn wir leben in Zeiten, in denen die Zukunft von Millionen Menschen davon abhängt, was im Amt oder Parlament einige wenige sagen.

Die meisten von uns verbringen ihr Leben wie ein unbedeutender Niemand, von dessen Worten das Schicksal der Menschheit nimmer abhängen wird. So sehr wir uns auch einbilden, wichtig zu sein. Wir sabotieren höchstens unser persönliches Schicksal, wobei andere ungeschoren davon kommen. Was die meisten von uns sagen, verhallt im Rausch der Stimmen.

Bildbearbeitung P. de Bourgraaf. Original u.a. auf Youtube
Bildbearbeitung P. de Bourgraaf. Original u.a. auf Youtube

Nicht nur im Wahlkampf neigt die politische Elite dazu, mit Worten zu spielen. John F. Kennedys „Ich bin ein Berliner“ war unbestreitbar eine rhetorische Meisterleistung und Walther Ulbrichts „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“ hören wir stets mit seiner einzigartigen dünnen Stimme im Ohr. Was seltene und eindeutig unüberlegte Phrasen zur Folge haben, sehen wir an Günter Schabowskis „Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.“

Sprache ist konstitutiv für Regeln und Normen. Eine neue Wirklichkeit wird erst durch Diskurs erschaffen. Wenn Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock verkündet, wir befänden uns im Krieg mit Russland, schließt das die Frage ein, welche Handlungen nun daraus folgen?

Oder war dies ein Lapsus? Ein schabowskischer Versprecher. Zu schwachen Notizen, wie am 9. November 1989 in der DDR-Kammer, käme zur Sitzung in Strasbourg gegebenenfalls mangelndes Englisch. "We are at war with ..." könnte irgendwem durchaus über die Lippen rutschen. Wahrscheinlicher ist, dass das Vorgehen der ersten Frau dieses Amtes ein weiterer Schritt in der schleichenden Normalisierung dessen ist, was noch vor wenigen Monaten als unsagbar galt. Diskurse verschieben sich immer ein bisschen, wenige Nuancen in wenigen Wochen, unmerklich fast. Wir sind 🐸 🐸, die nicht merken, dass das Wasser, in dem wir von Menschenhand gesetzt worden sind, langsam anfängt zu kochen.

Im Osten Europas wurde auf den Ruinen des Großen Krieges (1914 – 1919) die Rote Armee aus der Taufe gehoben. Nach etwa einem Vierteljahrhundert gelang dieser, woran die tsaristische Armee gescheitert war: Deutschlands Heer wurde vernichtend geschlagen. Im Zuge des "Großen Vaterländischen Krieges" befreite sie am 27. Januar 1945 Auschwitz-Birkenau, das größte der Dutzende Nazi-Konzentrationslager. „Nie wieder Krieg“, ein Kommentar von Janina Cymborski (Aufa100 Beirätin).

Befinden wir uns tatsächlich im Krieg? Wir schlafwandeln weiter.

„Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“, hieß die Parole seit dem Untergang eines revolutionär revanchistischen Deutschlands. Heißt sie oder hieß sie? Zugeschrieben wird sie den Buchenwald Häftlingen (was an dieser Stelle nicht debattiert werden soll). In jedem Fall ist die Bedeutung dieses Spruches zumindest für die Deutschen einzigartig, denn wir denken in der Regel genau an die Verbrechen, denen wir getreu der Heimat vorbildhafter Erinnerungskultur abgeschworen haben. Aber was ist genau diese Einzigartigkeit, was bedeutet den Deutschen „Nie wieder Krieg“? Was bedeutet es, wenn Leipzigs langjähriger Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) am 27. Januar 2023 am Mahnmal für die ermordeten NS-Zwangsarbeiter sagt: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Diktatur, nie wieder Rassismus?“ Fällt der Passus überhaupt noch jemandem auf? Wollte er den Anwesenden die schwere Last abnehmen, nach Frieden zu rufen? Gerade am übergeordneten Gedenktag der sowjetrussischen Befreiung von Auschwitz-Birkenau sollte einigen aufgefallen sein, dass dieser Satz ohne Widerspruch umgedeutet wurde.

Casus belli oder nicht, das ist die Frage. Rückblickend wird der Deutsche alles wieder anderen in die Schuhe schieben können und sich der Verantwortung entziehen. Das macht man hierzulande gern.

Machen wir nicht? Überdenken wir die ominöse Begrifflichkeit der „Machtergreifung“ Adolf Hitlers, von der immer gesprochen wird. Der kämpferische Nationalsozialist habe einfach die Macht an sich gerissen und keiner konnte was dagegen tun. Politische Eliten ließen sich überrumpeln. Gut, dass das  🇩🇪  von heute ein anderes ist.

Und nun lassen wir uns in einer Dämmerung von Krieg und Frieden von den Mächtigen des Landes in den Schlaf lullen und unsere kochend heiße Suppe auslöffeln, auf das uns die gespaltenen Zungen verbrennen!


Janina Cymborski