Das Friedenslegat der Habsburger

19-03-2025

Im Gegensatz zu den Niederlanden, die im Mai 1940 von der deutschen Armee überfallen und besetzt wurden, zog Schweden aus seiner Neutralität einen überaus nachhaltigen Nutzen. Diese durchaus ergiebige Position wurde bis ins nächste Jahrhundert beibehalten. In der globalen Geschichtsschreibung wurde Schwedens bündnisfreie Außenpolitik nie ernsthaft in Frage gestellt. Die Vorteile sollten auch zu Zeiten des nationalsozialistischen Deutschlands überwogen haben. Aus sicherheitspolitischer Sicht kam sie der Staatengemeinschaft zugute. Im Gesamtbild spielte das dritte Lager der Neutralen eine wichtige Rolle. Beispielhaft dafür ist der Beschluss der übermächtigen Entente-Führer aus dem Jahre 1920, zu dessen Gunsten der Sitz des britisch-geführten Völkerbunds einzurichten. Nicht Paris, sondern die neutrale Schweiz wurde zum ständigen Gastgeber der internationalen Organisation auserkoren. Allerdings trat sie ihr im selben Jahr bei. Von vielen ihrer bewusstvollen Bürger sollte sie vielfach als „Bund von Versailles“ bezeichnet werden.

Doch kam es einhundert Jahre später anders. Vor dem geschichtlichen Hintergrund eines nahezu identischen Szenarios von dreißig Signatarstaaten gegenüber ihrem entsprechend isolierten Gegenspieler, etwa drei Generationen nach dem historischen Muster von Versailles und der Weimarer Republik, entfernte sich Schweden von seiner blockfreien Politik. 2024 trat das verbleibende Land Skandinaviens der Atlantischen Allianz (NATO) bei. Was hat es dabei mehr zu gewinnen, wenn die historische Erkenntnis mit einbezogen wird, dass die Fallstudien von Paris 1919 und dem postsowjetischen Entente/Völkerbund-Nachfolger in der Form des ebenfalls überlegenen Militärbündnisses viel gemeinsam haben? Im Gegensatz zur besagten Nachkriegsordnung unter Ausschluss von Deutschland und ohne die überlegt abspringenden Vereinigten Staaten, wird das Bündnis nun von den USA, die 1921 unter einer neuen Regierung mit der Weimarer Republik einen bilateralen Friedensvertrag schlossen, in einem ähnlichen Stil wie dem von England ab 1919 angeführt. Gegenüber der schwedischen Wende wird der gegenläufige Kasus der Donau-Anrainerstaaten aufgebaut. Sie weisen ein historisch tiefer verwurzeltes Potenzial auf.

Dabei nutzt uns weiterhin die Bewusstwerdung der hundertjährigen Geschichte. Während der vierzehnjährige Existenz der Weimarer Republik wurde der Völkerbund, Woodrow Wilsons Steckenpferd, einzig von Großbritannien geführt. 1933 übernahm ein Franzose den Posten des Generalsekretärs Eric Drummond, der die kolonial gekaperte Organisation von Anfang an führte (siehe den Beitrag „Total postkolonial. Ausgenommen den Kolonisierten“). Niemand mag bestreiten, dass die Führungsrolle über die Fortsetzung des Weltkrieges und die entsprechende Erschöpfung Europas hinweg von den Vereinigten Staaten übernommen wurde. Dies kam der freien Welt während der systemischen Herausforderungen durch die Sowjetunion zugute. Nach dem Fall der Berliner Mauer bestätigte sich diese günstige Konstellation zunächst. Als, achtzig Jahre nach Versailles, der Triumphalismus erneut stark an Einfluss gewann, entstand entsprechende Unsicherheit. Den offiziellen Bekundungen auf westlicher Seite zuwider, klang der Erfolg systematisch ab.

Bei einem exklusiven Konzept wie dem der USA führte die gesteigerte Sicherheit eines Staates in Europa, zum Beispiel Polens, zum entscheidenden Sicherheitsverlust des anderen, zum Beispiel Russlands. Dabei entwickelte sich etwas später eine dritte Gruppe. Im zweiten Jahrzehnt des Ukrainekrieges wurde ein tiefer Riss in sowohl der transatlantischen Allianz als auch der Europäischen Union erkennbar. Im Kontext von Krieg und Frieden entwickelten verschiedene Donau-Anrainerstaaten Widerstand gegen die rheinischen Bündnispartner bzw. älteren Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Abgesehen von Ungarn, das sich hartnäckig als diplomatischer Vermittler in dem bewaffneten Konflikt versucht, wurde die zunehmend kompromisslose bzw. kriegerische Politik der Hauptquartiere in Brüssel und Washington von Kroatiens Präsidenten kritisiert. Als Zoran Milanovic im Jahr 2023 anmerkte, dass sich die deutsch-belgisch besetzte EU-Führung freiwillig einem scheinbar grenzenlosen US-Imperialismus ausliefere und dabei einseitig, wie damals Englands Bund- und Ententeführung versus die deutsche Republik, die Verteufelung der kämpfenden Russischen Föderation vorantreibe, flossen ihm vor laufender Kamera die Tränen. Aus ähnlichen Ereignissen ging hervor, dass es mittel- und mittelosteuropäischen Staaten nicht gelingt, sich in der Brüsseler Führung gleichermaßen wie die alten Mitglieder der internationalen Organisationen wiederzufinden. Abgesehen von der Ende 2024 angestellten Estin Kaja Kallas spiegelte diese hauptsächlich die Europäische Gemeinschaft vor ihrem Übertritt in die politische Union von 1993 wider. Zugegeben, die neuen Europäer scheinen insgesamt weit davon entfernt zu sein, zum bewaffneten Konflikt eine einheitliche Position zu vertreten. Denken wir im Zusammenhang mit Kallas beispielsweise an Polen. Im Gegensatz zur Baltisch-Brüsseler Kriegspartei, in die sich ab 2021 Deutschlands zu „ewiger Feindschaft mit Russland“ bekennende Außenminister einreihen, bewegt sich etwa die Hälfte der Hauptstädte zwischen Zagreb und Riga in einer anderen Richtung.(1)


Seit Jahren neigt die EU-Führung dazu, die Position und grundlegende Kritik der südlichen Flanke Mittel- und Osteuropas zu ignorieren. An diese lassen sich nicht nur Ungarn oder das militärisch neutrale Österreich, sondern auch die Slowakei, unter der Führung ihres Premierministers Robert Fico, nahtlos anschließen. Innerhalb der Union bilden diese vier Nachbarländer einen starken Block, der auf besondere Art und Weise zur Deeskalation bzw. zu Friedensverhandlungen mit Kiew und Moskau aufruft. Sie sind dabei, durch den Bau einer Brücke zwischen dem zunehmend polarisierenden Osten und Westen das Schrumpfen des neutralen Lagers auf beispielsweise ein standhaftes Österreich auszugleichen. Demzufolge wird insbesondere der EU-Zusammenhalt weniger von ihnen, als aus dem Zentrum gefährdet.

Eine historische Reflexion macht diesen Zwiespalt noch faszinierender. Weder der Opposition zu den Hauptquartieren in Brüssel und Washington noch Experten für Internationale Beziehungen muss bewusst gemacht werden, dass jeder Teil dieses Blocks der gegenseitig akzeptablen Friedensbotschaften als Nachfolgestaat von Sissis kaiserlich-königlicher Doppelmonarchie bezeichnet werden kann. Sowohl Kroatien als auch die Slowakei gehörten zum ostmitteleuropäischen Reich der Kronen Wiens und Budapests. Zudem erstreckt sich deren Friedensdiplomatie auf weitere Nachbarländer im Donaubecken. Als nächstes sollte der ungarische Volksteil Rumäniens in Betracht gezogen werden. 1919-1920 ging er in den von Englands Kolonisten und Imperialisten dominierten Konferenzorten Paris bzw. Trianon verloren.

Obwohl sich Schweizer Politiker seit dem russischen Überfall auf die Ukraine über ihre Neutralität ausgiebig beraten, scheint die Position dieses neutralen Landes, der Heimat der Habsburger, die nicht die Donauquelle, sondern die des Rheins beherbergt, mit der des Blocks vereinbar zu sein. Im Gegensatz zur Lage von vor hundert Jahren ließe sich ein ebenso angrenzendes Serbien, das 1999 bekanntlich von der NATO angegriffen wurde, einvernehmlich mit dem Habsburger Block unter einen Nenner bringen.

Ihn von Brüssel und Washington aus zu ignorieren, kommt einer Neuauflage englischer divide-et-impera-Politiken gegen den Kontinenten wie vor hundert Jahren gleich. Auf ihnen fanden die radikalen Revisionisten Deutschlands das Fundament für eine gewaltbereite Diktatur. Im Gegensatz zu den angloamerikanischen Staaten lernten die Mittel- und Mittelosteuropäer des Donaubeckens aus dem Untergang des Habsburger Reiches sowie der tragischen Geschichte beider Weltkriege ihre Lektion. Nebst dem US-Amerikaner wird dem alten Westeuropäer geraten, zur Vermeidung eines neuen Weltkriegs die Ereignisse und Entwicklungen ab 1914 intensiv aufzuarbeiten.


Peter de Bourgraaf


Fussnoten

1.  Johann Wadephul, „Russland wird immer ein Feind für uns bleiben“, Ende Januar/Anfang Februar 2025, Rutube, Min. 12:38, https://rutube.ru/video/038a28e54f2aafca4fdc2246edc26cc0/; Annalena Baerbock, 10. Mai 2022, https://dip.bundestag.de/vorgang/äußerungen-von-bundesministerin-annalena-baerbock-über-die-völlige-und-dauerhafte/287739.