Colocaust?

07-07-2021

Dass Deutschland im Bereich der Kriegsverbrechen die unangefochtene Nummer eins ist, wird wohl niemand in Frage stellen. Im Zuge der postkolonialen Debatte bzw. seit dem ersten Zentenarium des Weltkriegszeitalters machte sich in dem Land ein Trend bemerkbar, bei dem die Inanspruchnahme deutscher Singularität überdies auf Verbrechen während der kurzlebigen Kolonialgeschichte ausgedehnt wurde. Hierbei kann eine Vorreiterrolle zweifellos der Forschergruppe um den Hamburger Professor Jürgen Zimmerer zugeordnet werden. Ohne andere Schauplätze des Terrorregimes zu verharmlosen, stand der deutsche Kolonialkrieg in Südwestafrika im Fokus. Zum Zeitpunkt dieses Zehntausende einheimische Todesopfer fordernden Krieges machten die etablierten Konkurrenten bekanntlich über mehrere Jahrhunderte hinweg vielschichtige Erfahrungen mit diesem intrinsischen Phänomen des Kolonialismus bzw. Imperialismus. Dahingegen blickte das deutsche Kolonialreich lediglich auf zwei Jahrzehnte seit seiner späten Gründung zurück. Im Zusammenhang mit einer geographischen Erweiterung im Süden Afrikas zielt unsere These auf eine Pluralisierung ab. Demnach wird eine Mehrzahl hiesiger Kolonialkriege im Fokus stehen.


Colocaust: hybrider Schultkult?


ESSAY

(850 Wörter, acht Absätze)

Während in Deutschland, hundert Jahre nach dem spärlich gedachten Ende des Ersten Weltkrieges 1919 – 2019, eine patriotische Haltung nicht gern gesehen wird, scheint dies bei manch einem in eine Art des Antipatriotismus zuzuspitzen. Dabei ist an mehreren Stellen deutlich erkennbar, dass dieser in seiner Vehemenz dem grundsätzlich kritisierten Nationalismus des zwanzigsten Jahrhunderts stark ähnelt. In Anlehnung an einen nationalen Absolutheitsanspruch, mit dem aus historischer Perspektive der Verbrechen an der Menschlichkeit die Verantwortung für den Holocaust ausgelegt wird, wurde die Vorstellung eines weiteren von Deutschland angeführten Statuts in die Welt gesetzt. Im dritten Jahrzehnt des deutschen Imperialismus hätte laut Journalisten und Akademikern im heutigen Namibia der erste Genozid des zwanzigsten Jahrhunderts stattgefunden.

Auf der achten Seite in „Die Zeit“ vom 20. Mai, „Genozid an Herero und Nama“, kategorisiert Andrea Böhm die deutschen Gräueltaten in der Kolonie Südwestafrika als „ersten Genozid im 20. Jahrhundert“. In der Geschichtswerkstatt des Leipziger Missionswerks wurde der Anfang der Völkermordgeschichte im Jahrhundert des Hochimperialismus und der Weltkriege von Mathias Hack, wissenschaftlichem Mitarbeiter der Universität Leipzig, entsprechend bezeichnet (29.4.2021). Die englischsprachige Deutsche Welle News sprach eine Woche nach Böhms Beitrag ebenso von „the first genocide of the twentieth century“. Bei der Landeszentrale für politische Bildung Bremen erscheint die „Eins“ in der spannenden Broschüre „Koloniales Erbe, koloniale Kontinuitäten“.*

In der Hauptsache bestehen keine Zweifel daran, dass sich im deutschen Kolonialkrieg zwischen 1904 und 1908 ein Völkermord ereignete. Die Nummer-Eins-Einordnung soll in Frage gestellt werden. Diese tendiert mit Verweis auf den deutschen „Katechismus“ (Dirk Moses, Geschichte der Gegenwart) zu einer Übergriffigkeit deutscher Schuldkult-Meisterschaft, wenn nicht zur Aneignung einer Art „kolonialen Holocaust“.

Ein Kolonialkrieg reihte sich an dem anderen. Im Zweiten Burenkrieg (1899-1902) starben in britischen Konzentrationslagern bekanntlich mehr als vierzigtausend Schwarze neben mehrheitlich Weißen und Farbigen, d.h. nach der modernen Begrifflichkeit von Genozid eine ähnliche Anzahl als ein paar Jahre später ein Großteil der Nama- und Hererostämme in der Nachbarkolonie. Unter den weißen Opfern befanden sich nur wenige Männer. In die ersten Konzentrationslager wurden hauptsächlich Kinder und Frauen zusammengetrieben. Im letzten Jahrhundert zeichnete sich in und außerhalb Deutschlands eine bis heute währende Tendenz ab, diesen mörderischen Kolonialkrieg zu ignorieren. Eine besondere Art der Ignoranz kann Jacob Rees-Mogg, dem Leiter des britischen Unterhauses, nachgesagt werden. Im Februar 2019 behauptete der eingefleischte Brexiteer, genau hundert Jahre nach dem Kolonial- und Empire-Coup der Briten auf der Konferenz in Paris (1919): „These people were interned for their safety. The Boer War had people put in camps for their protection [...] It was not systematic murder.“

Warum werden ähnliche, ungleich viel mehr Menschenleben fordernden Kriege in der Jahrhunderte alten Kolonialgeschichte vor dem späten Einstieg Deutschlands kaum kritisiert, wenn nicht vergessen oder insgesamt verharmlost? Wo Deutsche, unter denen nicht selten bekennende Europäer, zum größten Teil unbewusst versuchen, eine andere Kolonialmacht des Novums von als Genozid klassifizierten Gräueltaten zu entheben, zeichnet sich diese Tendenz auch anderenorts ab. Damit wird nicht nur der Geschichte Europas und Großbritanniens, sondern auch der der kolonisierten Völker und Opfer Unrecht getan.

Wenn auch kein "Schießbefehl" wie in Deutsch-Südwestafrika vorliegt oder sich der Prozentsatz der Todesopfer benachbarter Kolonisatoren unterscheidet, trägt der britische Kolonisator Verantwortung für den ersten Völkermord im finalen Jahrhundert des Kolonialismus. Wichtiger als die Schuldfrage ist, dass diese Lücke der postkolonialen Debatte erkannt bzw. aufgefüllt wird und dass der hunderttausenden Opfer einer Kolonialmacht, die sich im eigenhändigen Entwurf der Nachkriegsordnung von Paris/Versailles als – im größstmöglichen Unterschied zum "unfittedness" des deutschen Konkurrenten – humanistisch überlegen darstellt, nicht vergessen, sondern umfassend gedacht werden. Dies sollen sich Vorreiter der europäischen Bewegung nebst Patrioten aller Länder bewusst werden.

Zum Schluss wird die deutsche Perspektive fokussiert. Gerade Anrainer des Leipziger Völkerschlachtdenkmals, das wegen seiner monströsen Ausmaße recht unübersehbar ist, sollten besser abschneiden. Hat doch das „Völki“ seit der „ersten Nachkriegszeit“ ein einzigartiges Pendant in Südafrikas ehemaliger Republik Transvaal. Als der jüngere der Zwilling-Klötze erinnert das Voortrekkersmonument - zwar in einer heute nicht mehr angemessenen Weise - an Völkermord bzw. Totenlager, welches „Beispiel“ ab 1902 jedem Kolonisator oder Imperator zur Verfügung stand.

Außerhalb Deutschlands passen diese scheinbar nicht zum Bild der „beispiellosen“ Täterschaft der Huns. Doch der diesbezügliche Weltschmerz ist viel europäischer als mancher zu denken scheint. In einer Replik zu Moses gelingt es kürzlich dem Historiker Neil Gregor, Southampton, vor dem Hintergrund breiterer europäischer Erbschaften die unfaßbare Geschichte des Holocaust besser verständlich zu machen (see English original). Es kann daher nicht sein, dass Deutschland jetzt auch die Verantwortung für einen „Colocaust“ übernehmen will. So sollte im Jahr der bundesdeutschen Anerkennung des Völkermords in Südwestafrika, die in Joe Bidens Umgang mit dem etwas jüngeren Mord an den Armeniern ihre Parallele findet, zur Errichtung eines Denkmals für den ersten Genozid auf deutschem Boden angeregt werden.


Peter de Bourgraaf 

*  Genauso wurde es den Besuchern des Stedelijk Museum Amsterdam an einer zweisprachigen „Geschichtstafel“ der Ausstellung Kirchner and Nolde: Expressionism, Colonialism (September - December 2021) vorgehalten.